Sabotage an der Energiewende

Arbeiten an einem Windrad: ein Kran bewegt einen Flügel
Foto: Photoholiday / Pixabay

Die neue Bundesregierung verkauft ihre Energiepolitik als „Realitätscheck“ – in Wahrheit ist es eine Rolle rückwärts: neue Gaskraftwerke in Deutschland, freie Bahn für AKW in Europa und Bremsklötze für die Energiewende.

Deutschland und Frankreich wollen sich in der EU für die Gleichstellung von Atomkraft und erneuerbaren Energien einsetzen. Das beschließen Vertreter*innen beider Länder Ende August beim deutsch-französischen Ministerrat in Toulon. Frankreich will EU-Mittel für die Entwicklung kleinerer Reaktortypen, und Deutschland wird sich der Nutzung der Atomenergie durch Frankreich nicht mehr entgegenstellen, etwa bei europäischen Gesetzesvorhaben.

Jahrelang hatte sich Deutschland auf EU-Ebene einer Förderung der Atomenergie vehement widersetzt. Die Kehrtwende deutete sich kurz nach der vorgezogenen Bundestagswahl an. Im Mai einigten sich Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Präsident Macron darauf, „die Diskriminierung von Atomenergie auf EU-Ebene zu beenden“1, im Juni besuchte CDU-Energieministerin Katherina Reiche demonstrativ ein Treffen der atomfreundlichen Staaten in der EU. In Deutschland findet dieser Kurswechsel bislang wenig Beachtung. Sogar Umweltminister Carsten Schneider (SPD), der in den letzten Monaten stets deutlich gegen die Pro-Atom-Rhetorik seiner Regierungskolleg*innen protestiert hatte, schweigt dazu.

Gefährlicher Kurswechsel

Die Übereinkunft von Toulon ist nur ein Baustein des von Reiche und Merz betriebenen Kurswechsels in der deutschen Energiepolitik. Im September stellte Reiche das Ergebnis ihres „Monitoringberichts“2 – einer  Bestandsaufnahme der Energiewende – vor, und deutet die Zahlen in ihrem Sinne um: Reiche siedelt den künftigen Strombedarf am unteren Ende der Prognosen an. Daraus zieht sie den Schluss, dass der Ausbau der Erneuerbaren verlangsamt und ihre Förderung reduziert werden könne. Während die Verfasser*innen des Berichts vor Verzögerungen ausdrücklich warnen, will sie Tempo rausnehmen.3 Außerdem sieht sie ihre Pläne zum Bau von 50-100 neuen Gaskraftwerken bestätigt, dreimal so viel wie von der Vorgängerregierung geplant – hinter der vorgeblichen „Technologieoffenheit“ der CDU verbirgt sich in Wahrheit eine Politik von gestern, Reiches Handschrift als Ex-Gaslobbyistin ist unverkennbar. Selbst innerhalb der Union regt sich Widerstand gegen die Pläne der Ministerin, weil die teuren Gaskraftwerke zu Überkapazitäten führen und nicht zu niedrigeren Stromkosten beitragen würden.

„Clean Deal“ statt Green Deal

Dass politische Weichenstellungen nicht von Fakten, sondern von Lobbyinteressen bestimmt werden, zeigt sich auch auf europäischer Ebene. Die Atomlobby arbeitet seit Jahren daran, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen – mit wachsendem Erfolg. Ihre Geschichte: „Die Energiewende braucht Atomkraft für die Versorgungssicherheit.“ Dabei ist Atomkraft viel zu unflexibel, um sinnvoll mit fluktuierenden Erneuerbaren wie Wind- und Solarenergie zusammenzuspielen. In Wahrheit geht es um Geld: Für die seit jeher unwirtschaftliche Atomkraft fehlt es an Investor*innen. Stattdessen hofft die Industrie, sich mit öffentlichen Geldern über Wasser zu halten – und findet in Teilen der Politik willige Verbündete.

Länder wie Frankreich, Ungarn und Rumänien drängen in Brüssel seit Jahren auf Unterstützung: Mit Subventionen, Krediten, Bürgschaften und garantierten Vergütungen wollen sie unrentable Atomprojekte überhaupt erst möglich machen. Atomstrom wollen sie als „nachhaltig“ deklarieren und auf die EU-Ausbauziele für erneuerbare Energien anrechnen. Zudem fordern sie, mit Atomstrom erzeugten „roten“ Wasserstoff ungeachtet der Atomrisiken und des Atommüllproblems als „grün“ einzustufen. Auch sollen Atomanlagen schneller genehmigt und Atomstrom bevorzugt ins Netz eingespeist werden – alles auf Kosten der Erneuerbaren. Sie nennen es den „Clean Deal“ und spielen damit auf den „Green Deal“ an, das zentrale Klimaschutzprogramm der EU, das sie de facto unterwandern wollen.

Im Dienste der Atomlobby

Was die Vereinbarung von Toulon in der Praxis bedeutet, wird sich bald zeigen. Bis 2027 wird über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU für den Zeitraum von 2028 bis 2034 verhandelt. Im Sommer legte die Kommission ihren ersten Entwurf vor – und der hat es in sich: Erstmals sollen Forschungsgelder für Minireaktoren fließen und der Bau neuer AKW direkt förderfähig werden. Das wäre eine klare Abkehr von der bisherigen Linie der EU. Deutsche Steuergelder würden trotz Atomausstieg auch in AKW-Projekte im Ausland fließen. Ohne klaren Widerspruch aus Deutschland – dessen Stimme als größtem Nettozahler großes Gewicht zukommt – werden sich die Rahmenbedingungen für die Atomkraft verbessern, während gleichzeitig Investitionen in Wind- und Solarprojekte weniger attraktiv werden.

Seit ihrem Beihilfebeschluss vom Juni erlaubt die EU-Kommission den Mitgliedsländern außerdem, risikoreiche Projekte wie den Bau von Atomkraftwerken durch staatliche Garantien abzusichern. Mitgliedsstaaten können zudem Investitionen in den Umstieg von fossilen Energien auf klimafreundlichere Alternativen fördern – etwa Wasserstoff, selbst wenn er aus Atomstrom hergestellt wird.4

Parallel zu solch ungünstigen politischen Weichenstellungen muss die Energiewende auch juristische Rückschläge verkraften: Im September 2025 hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) Österreichs Klage gegen die Aufnahme von Atomkraft und Gas in die EU-Taxonomie in erster Instanz abgewiesen. Es bleibt also vorerst möglich, Investitionen in diese Technologien als „nachhaltig“ zu labeln – ein Urteil, das der Atom- und Gasindustrie in die Hände spielt.

Ausverkauf eigener Interessen

Populistische Debatten um Fossile und Atomkraft verstellen den Blick auf den Erfolg der Energiewende. Die kam, auch wegen klarer politischer Rahmenbedingungen, in den letzten Jahren gut voran. Im Juni 2025 stammte erstmals ein größerer Teil des EU-Stroms aus Solarenergie (22,1 Prozent) als aus Atomkraft (21,8 Prozent).

Deutsche Energiekonzerne und Millionen von Privatpersonen setzen seit Jahren auf Erneuerbare. Ein massiver Ausbau der Gaskapazitäten in Deutschland und die Gleichstellung der Atomenergie auf EU-Ebene entwertet ihre Investitionen und könnte den weiteren Ausbau ins Stocken bringen. Der Erhalt von Arbeitsplätzen im Erneuerbaren-Sektor in Deutschland (gut 400.0005 im Jahr 2023) steht offenbar nicht oben auf Reiches Prioritätenliste – der Vergleich zur Solarpleite Anfang der 2010er Jahre drängt sich auf.

Als Staatssekretärin im Bundesumweltministerium unter Peter Altmaier (CDU) war Katherina Reiche 2012 maßgeblich an der EEG-Novelle beteiligt, die die Bedingungen für Solarstrom drastisch verschlechterte. Die Folge war eine Konkurswelle in der zuvor boomenden Solarbranche, bei der rund 70.000 Arbeitsplätze verloren gingen, viele davon in Ostdeutschland. Später wechselte sie selbst in die Energiewirtschaft – die Organisation Lobbycontrol warnte bereits vor ihrem Amtsantritt als Wirtschaftsministerin vor massiven Interessenkonflikten.6

Rückschritt für Deutschland und Europa

Wenn die Regierung die Weichen für fossiles Gas in Deutschland und Atomkraft in Europa stellt, ist das ein völlig falsches Signal. Diese rückwärtsgewandte, ideologisch geprägte Energiepolitik läuft ausgerechnet den Interessen von Deutschlands Zukunftsbranchen zuwider, bremst die Energiewende, hält die Strompreise hoch und setzt Arbeitsplätze aufs Spiel. Und sie gefährdet damit auch die erklärten Ziele der EU: die Stärkung des Industriestandorts und zukunftsfähiger Technologien in Europa. Die selbst gesteckten Klimaziele rücken so in weite Ferne – mit unkalkulierbaren Folgen für uns alle.

Quellen

1    Financial Times, 2025
2    „Energiewende. Effizient. Machen“, EWI & BET, 2025
3    Deutschlandfunk, 17.09.2025
4    Der Spiegel, 25.06.2025
5    Agentur für Erneuerbare Energien, 2025
6    Lobbycontrol, 28.04.2025

Schwerpunkt-Thema Deutsche EU-Atompolitik

Diese Artikel gehören zur Serie über die deutsche EU-Atompolitik aus dem .ausgestrahlt-Magazin 65:

weiterlesen:

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    15.07.2025: Vor 50 Jahren unterzeichneten Deutschland und Brasilien ein Abkommen zur umfassenden Zusammenarbeit beim Aufbau einer eigenständigen brasilianischen Atomindustrie. Während Deutschland inzwischen alle AKW abgeschaltet hat, gilt das Abkommen noch immer. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland den Vertrag kündigt.
  • Berliner Atomzwist
    28.05.2025: Schwenkt die neue Bundesregierung in der EU auf Pro-Atom-Linie um? Der SPD-Umweltminister widerspricht. Aber der Streit ist noch nicht ausgefochten.
  • Großes Tauziehen
    24.05.2024: Die EU ist aktuell Hauptzielscheibe der europäischen Atomlobby. In immer neuen Initiativen versucht diese, der Atomkraft Vorteile zu verschaffen. Nächstes Etappenziel ist, den Weg freizumachen für eine direkte finanzielle Förderung. Dem Klima kann das nur schaden.
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