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Foto: ddp/Philipp Guelland

.ausgestrahlt ein Jahr nach dem Tod von Jochen Stay

Ein Jahr ist es nun her, dass Jochen Stay plötzlich und viel zu früh gestorben ist. Sein Tod am 15. Januar 2022 traf .ausgestrahlt schwer. Da war nicht nur die Trauer um diesen einzigartigen Menschen – wir hatten auch eine riesige Lücke im Team zu füllen. Von einem Tag auf den anderen fehlte nicht nur das bekannteste Gesicht von .ausgestrahlt, sondern auch sein Sachverstand, sein Gespür für politische Gelegenheiten und seine jahrzehntelange Erfahrung. Trotzdem stand für .ausgestrahlt von Anfang an fest, dass wir weiter für eine Welt ohne Atomgefahren streiten und Jochens Erbe weitertragen werden.

Jochens großes Herzensprojekt, die Anti-Atom-Radtour 2022 musste .ausgestrahlt nun ohne ihn verwirklichen: Die sechswöchige Tour sollte die großen Erfolge der Anti-AKW-Bewegung feiern und ebenso das bevorstehende Abschalten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland. Mehr als 2.000 Kilometer auf dem Rad quer durch die Republik, in 42 Etappen – das zu organisieren wäre selbst mit Jochen und seiner manchmal unerschöpflich scheinenden Energie ein Kraftakt gewesen. Der große Einsatz vieler lokaler Initiativen, die Unterstützung anderer Umweltorganisationen und nicht zuletzt viele, viele Überstunden des .ausgestrahlt-Teams machten die Radtour schlussendlich dennoch zu einem weithin sichtbaren Zeichen des Anti-Atom-Protests.

Der war in diesem Jahr der bösen Überraschungen nötiger denn je. In einem Krieg mitten in Europa wurden AKW zum Schauplatz von Kampfhandlungen. Energie wurde zur Waffe. Und die Bundesregierung änderte das Atomgesetz, erlaubte den Weiterbetrieb der drei noch laufenden Atomkraftwerke über das Abschaltdatum 31. Dezember 2022 hinaus bis Mitte April 2023 – ohne die längst überfällige Sicherheitsüberprüfung. Forderungen nach weiteren Laufzeitverlängerungen wurden laut. Noch vor einem Jahr hätte dies kaum einer für möglich gehalten.

Die Frage „Was hätte Jochen getan – was können wir jetzt tun?“ haben wir uns oft gestellt. Jede*r einzelne von uns musste neue Aufgaben übernehmen – und hatte dabei die Gelegenheit, über sich hinauszuwachsen. Als Team hat .ausgestrahlt zusammengehalten und ist wieder neu und fest zusammengewachsen in diesen bewegten und bewegenden Monaten. Und heute ist auch nach außen hin deutlich sichtbar, dass .ausgestrahlt viele Gesichter hat!

Die Ereignisse des letzten Jahres haben gezeigt, dass es weiterhin eine starke Anti-Atom-Bewegung braucht. Auch die Frage der mittel- und langfristigen Lagerung des radioaktiven Erbes ist noch völlig offen. .ausgestrahlt wird auch in Zukunft eine klare Stimme gegen die Atomkraft sein, die enormen Gefahren der Atomenergie im In- und Ausland thematisieren und Atomkraftgegner*innen mit starken Argumenten versorgen.

zu den Erinnerungen

zum Nachruf

Trauerfeier für Jochen Stay am Zwischenlager Gorleben

Bei strahlendem Sonnenschein und mit 400 Gästen haben wir am 12.03.22 Abschied genommen von Jochen Stay, unserem Freund und Weggefährten. Direkt vor dem Zwischenlager in Gorleben formten Hunderte ein großes gelbes X und versprachen: „Wir kämpfen weiter.“

 

Bilder der Aktion

Jochen Stay ist tot - Ein Nachruf

Viele kannten als erstes seine Stimme. Die ganze Nacht lang schallte sie aus den Lautsprechern, die auf ein Autodach montiert waren, über Acker und Straße. Im Auto saß Jochen, er informierte, kommentierte, deeskalierte – ein Twitter-Account am Megafon. Am Morgen war er heiser. Aber das Kalkül von „X‑tausendmal quer“ war aufgegangen: 9.000 Menschen hatten sich dem Castor in den Weg gesetzt, eine öffentlich angekündigte, gewaltfreie Sitzblockade, fast einen Kilometer lang. „Bürgerschaftliches Engagement“ nannte das der niedersächsische Innenminister im Rückblick. Die Polizei, der Staat, die Atomindustrie kam dagegen nur mit Tritten und Wasserwerfern an – eine politische Niederlage, deren Bilder um die Welt gingen.

Die Macht direkter gewaltfreier Aktionen hatte Jochen schon als Teenager erfahren, bei den Sitzblockaden gegen die Raketen in Mutlangen und den Wäldern, die sie für ihre Manöver nutzten. Er schrieb darüber unter anderem in der gewaltfrei-anarchistischen „graswurzelrevolution“, deren regelmäßiger Autor (und zwischendurch Koordinationsredakteur) er von 1989 bis 2008 war.

Über die Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf kam er Mitte der 1980er in Kontakt zur Anti-Atom-Bewegung. Als der INF-Vertrag den Abzug der Raketen besiegelte, wandte sich Jochen mit anderen Aktiven den Atomtransporten zu: Routen auskundschaften, Transporte blockieren, darin hatten sie Erfahrung. Die Kampagne „X‑tausendmal quer“, von Jochen mit initiiert und organisiert, war der erfolgreiche Versuch, die bei den Pershing-
Blockaden erprobten Methoden zur Massenaktion zu entwickeln. Was in den Augen Jochens vor allem hieß, Bedingungen zu schaffen, die möglichst viele Menschen ermutigten, aus ihrer Haltung öffentlichen Protest zu machen – mit politisch maximaler Wirkung.

Eine Stimme für Hunderttausende

Mit dem gleichen Ziel gründeten Aktive aus dem Umfeld von „X-tausendmal quer“, darunter Jochen, 2008, als der „Spiegel“ auf dem Titelbild die Anti-Atom-Sonne untergehen ließ, die Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt, die Hunderttausenden Atomkraftgegner*innen eine Stimme verlieh und den Widerstand gegen Atomkraft wieder sichtbar machte. Anti-Atom-Sonnen, Unterschriftensammlungen und Großdemos bildeten den Anfang. Und wir fassten ein kühnes Ziel: Den Betrieb der AKW nicht nur kritisch zu begleiten, sondern sie tatsächlich abzuschalten. Unrealistisch? Nicht in Jochens Augen. Denn er wusste: Wo Konflikt ist, können wir auch Einfluss nehmen. Und der Dissens um Atomkraft, der die ganze Gesellschaft spaltete, lag offen wie lange nicht mehr.

Jochen hatte die Idee, die schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen 2009 zu „belagern“. Wochenlang beherrschten die Anti-Atom-Proteste die Berichterstattung aus dem politischen Berlin. Und während Union und FDP an der Laufzeitverlängerung der AKW feilten, erweiterte Jochen das Repertoire der Anti-Atom-Bewegung um eine weitere, einst gegen Pershing-Raketen erprobte Protestform: die Menschenkette. 120 Kilometer, so seine Vision, vom AKW Brunsbüttel bis zum Pannenmeiler Krümmel. Manch große Umweltorganisation riet ob der Gefahr des Scheiterns eindringlich ab. Jochens Zugkraft und Überzeugung aber riss genug andere mit. Am 24. April 2010 formierten sich 120.000 Menschen entlang der Elbe zum längsten Anti-AKW-Protest in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die Laufzeitverlängerung verhinderte das zunächst zwar nicht. Das Protestfass aber war voll bis an den Rand. Der Super-GAU von Fukushima brachte es zum Überlaufen – und der nachfolgende Protest Hunderttausender läutete Merkels Atom-Wende ein. Fast die Hälfte der damals noch laufenden AKW ging sofort vom Netz.

Auch der Protest gegen ein Atommüll-Lager im Gorlebener Salzstock, den Jochen jahrzehntelang mit prägte, führte 2020 zum Erfolg. Das hielt Jochen nicht davon ab, den Finger weiter in die Atommüll-Wunde zu legen: Niemand konnte die Defizite und falschen Versprechungen des laufenden Standortsuchverfahrens präziser benennen als er.

Die Macht der Ohnmächtigen

Jochens Tod ist nicht nur für .ausgestrahlt ein immenser Verlust. Sein Wirken hat die Anti-Atom-Bewegung seit den 1980er-Jahren mitgeprägt und zu vielen ihrer Erfolge maßgeblich beigetragen. Auch zahlreiche andere Bewegungen und Kampagnen profitierten von seiner Erfahrung und seinem Rat.

Jochens Sachverstand und seine Begeisterungsfähigkeit werden uns fehlen, genau wie sein Dickkopf und seine Überzeugungskraft, seine Klarheit, sein Einsatz, seine Verantwortungsbereitschaft und sein großes Herz. Sein meist untrügliches Gespür für politische Gelegenheiten. Und seine immense Erfahrung, wie Protest erfolgreich Einfluss auf politische Konflikte nehmen kann.

Jochen war sich bewusst, dass seine vererbte Herzerkrankung sein Leben irgendwann abrupt beenden könnte. Von Plänen und Projekten hielt ihn dies nicht ab. Am Samstag, den 15. Januar 2022, ist er im Alter von 56 Jahren plötzlich und viel zu früh gestorben.

Es war Jochen ein Anliegen, nicht nur die konkreten Errungenschaften und Erfolge der Anti-Atom-Bewegung, sondern auch die weit über das Atom-Thema hinaus strahlenden zu sichern und als das zu benennen, was sie sind: Der Beweis, dass es sich lohnt, selbst für zunächst utopisch erscheinende Ziele zu kämpfen. Der Beweis, dass, wenn sich die scheinbar Ohnmächtigen zusammenschließen und sich wehren, es die scheinbar Mächtigen unendlich schwer haben, ihre Pläne durchzusetzen. Das war einer von Jochens Lieblingssätzen. Wir werden ihn nicht vergessen.

Armin Simon und das ganze .ausgestrahlt-Team

Darüber hinaus wollen wir Erinnerungen an, Erlebnisse mit und Gedanken zu Jochen zusammentragen und ggf. auch öffentlich teilen. Möchtest Du daran mitwirken, schicke Deinen Beitrag gerne an jochen@ausgestrahlt.de. Bitte schreib jeweils dazu, ob wir ihn – ggf. mit Namen oder anonym – veröffentlichen dürfen oder nicht.

Drei Organisationen war Jochen besonders verbunden. Spenden an diese wären in Jochens Sinn:

Die Arbeit der Stiftung Atomerbe kannst Du hier mit einer Spende unterstützen.

Erinnerungen an Jochen

Erinnerungen an, Erlebnisse mit und Gedanken an Jochen, insbesondere aus dem Bewegungs-Kontext

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Kondolenzseite für Jochen

Von .ausgestrahlt unabhängige Kondolenzseite auf Gedenkseiten.de

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Pressemitteilung zu Jochens Tod

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Nachrufe zu Jochens Tod

Nachrufe aus der Presse und aus dem Bewegungs-Kontext

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Preise und Ehrungen

Eine Auswahl von Preisen und Auszeichnungen, die Jochen Stay erhalten hat

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