Abrüstungsexperte Moritz Kütt über deutsche Atomwaffenfantasien, französische Atompolitik, nukleare Nichtverbreitung und die Brisanz von Urananreicherungsanlagen.
Herr Kütt, 80 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki diskutieren Politiker*innen und Medien, ob Deutschland „die Bombe“ brauche. Irritiert Sie das?
Absolut. Und es macht mir Angst. Deutschland hat sich völkerrechtlich verpflichtet, keine Atomwaffen zu bauen, sowohl im Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) als auch im Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Wiedervereinigung regelt. Und es war und ist eigentlich immer noch das erklärte Ziel der deutschen Politik, an einer atomwaffenfreien Welt zu arbeiten. Das einzige Land, das je aus dem NVV wieder ausgetreten ist, weil es doch Atomwaffen bauen wollte, war Nordkorea. Würde Deutschland sich so verhalten, hätte das drastische Folgen. Vermutlich würden dann noch mehr Staaten diesen Weg gehen. Das Nichtverbreitungsregime wäre kaum noch zu halten.
Bundeskanzler Merz (CDU) macht dessen ungeachtet keinen Hehl daraus, dass er Deutschland gerne an Atomstreitkräften beteiligen würde, etwa an den französischen. Zugleich bekannte er sich in einem mit dem französischen Präsidenten Macron verfassten internen Papier unlängst zu dem Ziel, auf EU-Ebene Atomkraft genauso zu fördern wie erneuerbare Energien – die französische Regierung kämpft dafür seit Langem. Ist es vermessen, da einen Zusammenhang zu sehen?
Auf deutscher Ebene halte ich diesen Zusammenhang für ausgeschlossen. Ich glaube, dass dieses interne Papier und die Diskussion zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium dazu ein Ausloten der politischen Möglichkeiten für eine Förderung von ziviler Atomenergie war. Dazu ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es wäre auch absurd, wenn Deutschland jetzt die französischen Nuklearindustrie fördern würde, um im Gegenzug französischen „Atomwaffenschutz“ zu bekommen. Beides wäre entgegen früherer deutscher Politik.
Moritz Kütt
Prof. Dr. Moritz Kütt, Physiker, leitet das Labor für nukleare Abrüstung an der Universität Hamburg (Hamburg Nuclear Disarmament Laboratory).
Für Macron hängen Atomwaffen und Atomkraft aber untrennbar zusammen.
In einer Rede vor Angestellten der Atomindustrie, die er motivieren wollte, hat er das mal so gesagt. Kaum ein anderes Land außer Frankreich stellt diesen Bezug so her. Um Atomwaffen zu haben, muss man keine AKW betreiben – das zeigen die Beispiele von Israel und Nordkorea. Und die meisten Länder, in denen AKW laufen, haben keine Atomwaffen.
Laut dem ehemaligen Chef der US-Atomaufsicht, Gregory Jaczko, ist einer der Hauptgründe, warum Staaten in die Atomkraft einsteigen wollen, der Wunsch, sich Optionen zum Bau von Atomwaffen zu schaffen. Liegt er falsch?
Es dürfte bei einigen ein ernstzunehmender Hintergedanke sein, der da irgendwie mitschwingt.
Wo liegt denn der technische Zusammenhang zwischen Atomwaffen und AKW?
Technisch betrachtet gibt es einen engen Zusammenhang, das ist schon immer ein Problem der zivilen Nukleartechnologie. Atomwaffen brauchen entweder hochangereichertes Uran oder Plutonium. Beides kommt nicht natürlich vor. Plutonium wird in allen, auch zivilen, Reaktoren produziert, ob Betreiber das wollen oder nicht. Um es für Waffen zu nutzen, braucht es noch eine Wiederaufarbeitungsanlage, die es aus den abgebrannten Brennstäben extrahiert. Aber es ist natürlich schon mal ein erster Schritt, wenn man die abgebrannten Brennstäbe hat.
Und hochangereichertes Uran?
Uran kommt in der Natur nur mit einem sehr niedrigen Gehalt von etwa 0,7 Prozent Uran-235 vor. Die Technologie, mit der es auf drei bis fünf Prozent für AKW oder auf 90 Prozent für Atomwaffen angereichert wird, ist exakt dieselbe, das ist untrennbar. Vereinfacht gesagt läuft die Anreicherungsanlage dann einfach ein bisschen länger.
Gilt das auch für die Urananreicherungsanlage in Gronau, die vom Atomausstieg bisher ausgenommen ist?
Ja. Deren Kapazität ist übrigens um ein Vielfaches größer als die Anreicherungskapazitäten, die der Iran vor dem israelisch-amerikanischen Bombardement hatte. Wer so eine Anlage hat, kann nur versprechen, sie nicht für Waffenzwecke zu benutzen – technisch besteht immer die Möglichkeit. Dies wird in Staaten ohne Kernwaffen streng überwacht. Wie eng die militärische Option mit der zivilen Nutzung der Atomkraft einhergeht, sieht man eben auch daran, dass sich die Staatengemeinschaft sehr intensiv Gedanken darum gemacht hat, wie man Atomenergie nutzen und zugleich dieses Waffenproblem ausschließen kann.
Mit welchem Ergebnis?
Etwa mit dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag von 1970. Der verbietet allen Ländern außer den damaligen fünf Atommächten, Atomwaffen zu entwickeln. Im Gegenzug haben die Atommächte atomare Abrüstung versprochen – und Unterstützung bei der zivilen Nutzung der Atomenergie.
Was daran sehen Sie kritisch?
Der NVV hat mit diesem Versprechen selbst dazu beigetragen, Technik weiter zu verbreiten, die potenziell auch für Atomwaffen missbraucht werden könnte. Statt den eher einfachen Schluss zu ziehen, andere Technologien der Stromproduktion zu fördern, die nicht diesen Ballast mitschleppen.
Atomkraftgegner*innen haben die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen seit jeher als Argument gegen AKW angeführt.
Das ist immer noch ein sehr gutes Argument. Denn das große Risiko ist immer, dass Atomkraft diesen Weg möglich macht.
Welche Schritte würden uns einer atomwaffenfreien Welt näherbringen?
Wir müssen davon wegkommen, dass jede Seite meint, mehr Waffen besitzen zu müssen als die andere. Die Staaten müssten dann Abrüstungsschritte gehen. Der 2021 in Kraft getretene Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) könnte ein Vehikel sein, zu einer atomwaffenfreien Welt zu kommen. Anschließend sollte es auch eine Debatte über die Nutzung der Atomkraft geben. Der AVV verbietet diese zwar nicht. Aber man könnte sagen: Die Nähe zur militärischen Nutzung ist zu groß, deswegen lassen wir auch die zivile Nutzung. Je weniger Atomanlagen es gibt, desto leichter ist es auch, diese zu überwachen.
Interview: Armin Simon
Schwerpunkt-Thema Deutsche EU-Atompolitik
Dieses Interview gehört zur Serie über die deutsche EU-Atompolitik aus dem .ausgestrahlt-Magazin 65:
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